Kind, du brauchst doch (k)eine Ausbilung
disclaimer: dieser Text geht raus an alle Menschen, die merken, dass ein vorgegeber Studien- oder Ausbildungsplan nicht das Richtige für sie ist und die Probleme damit haben, das vor sich und anderen zu rechtfertigen. Ich hoffe, euch eine kleine Hilfe zu bieten, sei es durch das Wissen, dass ihr nicht allein seid oder durch eine Argumentationshilfe meinugsstarken und angeblich wohlmeinenden Verwandten gegenüber. Was hier nicht mein Ziel ist, ist zu behaupten, dass mein Modell der einzige Weg sei oder Menschen zu diskreditieren, die sich in Ausbildung oder Studium befinden. Wie so oft im Leben geht es darum, Akzeptanz für Lebensstile abseits des Mainstreams zu schaffen und nicht darum, einen Bestimmten zum einzig richtigen Lebensstil zu stilisieren.
In gewiser Weise befinde ich mich seit drei Jahren in einem groß angelegten sozialen Experiment. So lange ist es jetzt her, dass ich mein Studium “unterbrochen” habe. (So habe ich es damals genannt, aber vielleicht war mir insgeheim schon damals klar, dass es eher ein Ende als eine Unterbrechung werden wird). Seitdem darf ich beobachten, wie unsere Gesellschaft darauf reagiert, wenn sich ein junger Mensch bewusst entscheidet, keine formale Ausbildung abschließen zu wollen. Let’s just say: it was a wild time. Ich glaube der Satz “du brauchst doch eine Ausbildung” hat mittlerweile den ersten Platz errreicht in der Liste der Dinge, die ich am häufigsten höre. Sei es meine Mutter, Freund*innen meiner Mutter, die Busfahrerin, Kolleg*innen oder sonst wer – alle scheinen mir gefragt oder ungefragt (aber fast immer ungefragt) diesen einen “Tipp” mitgeben zu wollen. Der Tonfall ist meistens besorgt bis hysterisch, Tendenz steigend, je länger ich schon nicht mehr studiere. Keine Ausbildung haben zu wollen, sehen viele Leute auf der „Dummheitsskala der Lebensentscheidungen“ auf dem gleichen Platz wie ohne Helm Motorad über die Autobahn zu fahren oder mit einem selbstgebauten Floß den Atlantik zu überqueren. Fragt man sie, warum, dann kommt als Antwort meistens eine Wiederholung des Glaubenssatzes (wie: „weil man ohne Ausbildung eben nichts werden kann“) anstatt Argumente, die diesen untermauern. Und wo ich auf einen angeblich unhinterfragbaren gesellschaftlichen Konsens stoße, mache ich es zu meiner Aufgabe, ihn zu hinterfragen.
Aber fangen wir mal von vorne an: Ich war im Studium todunglücklich. Das lag unter anderem, aber nicht nur daran, dass ich in der Corona-Zeit studiert habe. Fast seit Beginn meines Studiums hatte ich ausschließlich online-Vorlesungen, so gut wie alle Veranstaltungen, um Mitstudierende kennenzulernen und sich in der neuen Stadt zurecht zu finden, sind ausgefallen. Kein Wunder also, dass die Motivation nicht gerade floriert.
Doch meine Unzufriedenheit war nicht nur dieser Ausnahmesituation geschuldet, sondern ging darüber hinaus. Die Inhalte des Studiums und die Art und Weise, wie diese vermittelt wurden, frustierten mich zutiefst. War ich doch ins Studium gestartet in der Hoffnung, konkrete Kompetenzen zu erlernen, die mir helfen würden, mich zu verwirklichen und irgendwas in der Welt zu erreichen, musste ich schnell merken, dass dem überhaupt nicht so war. Es war ein running gag unter der Studierendenschaft, wie aufgeblasen unsere Dozenten nichtssagende Aussagen formulieren konnten, um sie wissenschaftlich klingen zu lassen. Manchmal drehten sich ganze Vorlesungen um Sätze wie „Stakeholder participation processes are integral for the longterm success of sustainable transformation projects“, die dann in verschiedenen Variationen wiederholt wurden. Würde man diesen Satz in normale Sprach umwandeln, klinge er etwa so: „wer was verändern will, sollte alle Betroffenen fragen, ob es für sie okay ist.“ Das ist grundlegender Menschenverstand und sollte nach 30 Sekunden allen klar sein. Doch es ging nicht darum, möglichst einfach und verständlich (ergo: effizient) Wissen zu vermitteln, es ging geradezu ums Gegenteil. Der Zweck unseres Studiums bestand hauptsächlich darin, diese besondere, „akademische“ Sprache zu lernen, mit ihren eigenen Vokabeln und Ausdrucksweisen, die – ähnlich wie wenn man eine Fremdsprache lernt – alternative Begriffe für Dinge bietet, für die wir in unserer Muttersprache eigentlich schon längst Wörter haben. Das war spätestens klar, als ich aus Neugier mal eine ganze Hausarbeit in „normaler“ Sprache schrieb und durchfiel, obwohl sie sogar laut Dozent inhaltlich korrekt und gut recherchiert war.
Ich will nicht anzweifeln, dass akademische Sprache durchaus hilfreich und wichtig sein kann bzw. mal war, um komplexe Dinge zu erforschen, für die es vorher noch keine Wörter gab. Doch wenn die Sprache zum Selbstzweck wird, indem man einfach-sagbare Dinge kompliziert ausdrückt, entsteht meiner Meinung nach ein gravierendes Problem. Wenn man sich die großen globalen Probleme von heute anguckt (sei es Klimakrise, soziale Ungerechtigkeit, etc.) sieht man schnell: das Wissen, wie man diese Dinge bekämpft ist längst vorhanden – es ist bloß nicht ausreichend verteilt. Die Kunst und Notwendigkeit besteht nun darin, dieses Wissen so klar, einfach und verständlich auszudrücken wie möglich. Das wäre eine Demokratisierung der Wissenschaft. Stattdessen wird durch eine Sprache, die alle ausschließt, die nicht selbst an einem jahrelangen Kurs zur Beherrschung dieser Sprache (auch bekannt als Studium) teilgenommen haben, aktiv eine Elitisierung vorangetrieben. Mitreden können sollen nur möglichst wenige, weil das Prestige derjenigen, die es können größer ist, je einzigartiger sie sind.
Vor drei Jahren habe ich mir also vorgenommen, erst mal zu pausieren. Damals wollte ich unbedingt zum Studienabschluss gelangen, doch ich war so frustriert vom Studium, dass ich dachte, ich brauche eine Erholungspause, um danach bis zum Bachelor die Zähne zusammen beißen zu können. Der Grund, dass ich seitdem keinen Fuß mehr auf den Campus gesetzt habe ist simpel: ich habe gemerkt, wie viel ich lerne, wenn ich aufhöre, meine Zeit in der Uni zu verschwenden. Ich weiß jetzt, wie man Projekte managt, ich kann Pressearbeit machen, Fahrräder und Handys reparieren, klettern, Hütten bauen, gärtnern, ich kenne mich mit Heilpflanzen aus, ich habe unzählige Workshops gegeben und ein Buch geschrieben. Die Liste wird dauernd länger, denn ständig lerne ich neue Dinge dazu. Natürlich bin ich in nichts davon Expertin so wie ich es wäre, wenn ich das entsprechende Fach studiert oder eine Ausbildung abgeschlossen hätte. Doch das Wissen, was ich habe, ist mehr als ausreichend, um mir selbst und anderen im Alltag zu helfen und ich konnte es gerade deshalb mit Begeisterung lernen, weil es direkten Bezug zum und Nutzen im Alltag hat.
(Die meisten Studierenden, die ich kenne, bekommen erst im Master das Gefühl, irgendetwas Sinnvolles und Nützliches zu lernen, was im Umkehrschluss das Bachelor-Studium auf einen Art Test reduziert, ob du unterwürfig und willenslos genug bist, drei Jahre sinnlose Dinge zu tun, damit du danach, wirklich was lernen zu dürfen.)
Ich weiß, dass meine Ansichten zu diesem Thema auf viele „extrem“, sonderbar oder extrem sonderbar wirken mögen, doch warum ist das so? Ich glaube, auch das verrät viel über unsere Gesellschaft. Zum Einen priorisiere ich das, was ich will, was mir guttut und sich richtig anfühlt, über das, was andere für richtig oder notwendig halten. Das ist komisch, in einer Gesellschaft, in der es zum Konsens geworden ist, dass der Alltag mit Tätigkeiten gefüllt sein muss, die man gegen den eigenen Willen und ohne ein Gefühl von Selbstverwirklichung tut. So sehr, dass Autofahrer den Klima-kleber fast nie zuschreien „räumt mir endlich den Weg frei“, sondern fast immer „geht arbeiten!“ Wer seine Zeit in den eigenen Dienst und nicht den eines Chefs, des Geldes, einer Karriere oder eines sonstigen gesellschaftlichen Konstruktes stellt, der zieht die Wut derer auf sich, die das Gefühl haben, eben dies tun zu müssen.
Zum anderen will ich keine Expertin, sondern lieber eine Generalistin sein, die in verschiedenen Bereichen über Wissen verfügt, das sie flexibel einsetzen kann. Auch das ist befremdlich in einer Welt, in der jegliches Tun dem Endziel des Geldverdienens dienen soll. Mit Expertenwissen lässt sich eher Geld verdienen als mit einem generalisierten Set an Skills. Auch wenn die Folge davon ist, dass du dann bei den meisten Problemen im Alltag, die nicht deine Expertise betreffen, anderen Experten hinzuziehen und für ihre Dienste bezahlen musst. Um es übertrieben einfach zu sagen: Ein Atomphysiker verdient viel Geld, muss aber auch viel ausgeben, um Fahrräder reparieren oder den Garten machen zu lassen. Eine Gesellschaft der Expert*innen ist gut für das Bruttoinlandsprodukt, aber schlecht für die Autonomie und das Wirksamkeitsgefühl ihrer Individuen.
Nach einigem Nachdenken über die Kultur des Expertentums bin ich zu folgendem Schluss gekommen: es gibt zwei Arten von Wissen. Hilfreiches Wissen (wie z.B. über Gesundheit und den eigenen Körper, das Heilen von Krankheiten, regenerativer Umgang mit der Natur, Reparieren von Fahrrädern, Textilien und sonstigen Gebrauchsgegenständen, Umgang und Kommunikation mit anderen Menschen, etc.) Und schädliches Wissen (wie baut man Atombomben, Kriegsgerät, Kohlekraftwerke, wie macht man Propaganda, wie kreiert man Lebensmittel, die extrem unnahrhaft sind, aber Menschen süchtig machen, damit man viel Geld damit verdienen kann, etc.). In einer perfekten Gesellschaft würden alle Menschen über Ersteres verfügen und es im Laufe ihres Lebens von anderen im Alltag vermittelt bekommen. Nützliches Wissen sollte kein Expert*innenwissen sein, sondern allen zur Verfügung stehen. Letzteres ist dagegen fast immer Expertenwissen, das im besten Fall gar nicht mehr vermittelt wird. Ausnahmen gibt es immer, wie die moderne Medizin, die natürlich bestehen bleiben soll. Trotzdem lade ich euch dazu ein, mal darauf zu achten und ich bin der Meinung, ihr werdet festtellen: Expertenwissen ist in großen Teilen für Natur und Menschheit schädlich und für Profit und Herrschaft hilfreich, während es sich mit generalisiertem Wissen genau anders herum verhält.
Widerlegt mich gerne, wenn ihr es anders seht. Bis dahin freue ich mich, morgen nicht in die Uni zu müssen und verkünde die Botschaft: für eine Welt mit weniger Expert*innen und mehr Alltagskompetenzen.